Interview Dr. med. Kathrin Hauri und Michèle Widler - Kinderkrebs – Abschied nehmen 2025 - Kampagnen - Aktuell - Kinderkrebsschweiz
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«Jede Familie, jeder Abschied ist verschieden»

Interview mit Dr. med. Kathrin Hauri und Michèle Widler 

Interview mit Dr. med. Kathrin Hauri und Michèle Widler

Dr. med. Kathrin Hauri ist Leitende Ärztin und Michèle Widler Psychologin des Pädiatrischen Palliative Care Teams am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB). Das UKBB ist eines von aktuell vier zertifizierten Kompetenzzentren für pädiatrische Palliativbegleitung in der Schweiz, an denen Kinder und Jugendliche mit lebensverkürzenden oder lebensbedrohlichen Erkrankungen gemeinsam mit ihren Familien umfassend und ganzheitlich betreut werden.

Frau Hauri, was unterscheidet die Palliativversorgung von krebskranken Kindern und Jugendlichen von derjenigen bei Erwachsenen? 
 
Die Palliativversorgung im Erwachsenenalter betrifft sehr oft ältere Menschen. Im Gegensatz dazu befinden sich krebskranke Kinder am Anfang ihres Lebens oder Jugendliche bereits mittendrin. Sie sind umgeben von Familie und Freunden, gehen vielleicht schon zur Schule oder machen eine Ausbildung. Sie sind voller Energie, haben Pläne und Wünsche für die Zukunft. Es ist alles auf Leben und Entwicklung ausgerichtet. Wenn ein Kind unheilbar krank ist, gerät dieses komplexe System aus dem Gleichgewicht. In der Pädiatrischen Palliative Care begleiten wir diese Kinder und ihre Familien ganzheitlich – medizinisch, psychosozial und ethisch. Im Vordergrund steht dabei stets, Lebensqualität zu schaffen, wo Heilung nicht mehr möglich ist.

 

Frau Hauri, was benötigen Eltern am dringendsten, wenn sich abzeichnet, dass die Therapie bei ihrem Kind nicht anschlägt? 

In dieser Phase sind offene und ehrliche Gespräche besonders wichtig. Und es braucht eine klare Haltung zur Frage, was dem Kind jetzt guttut und was vielleicht nicht. Wenn es sinnvoller ist, auf weitere belastende Therapien zu verzichten, fokussieren wir uns auf die Linderung der Symptome. Wir begleiten die Familien dabei, gemeinsam zu entscheiden, wo die Grenze für sie liegt. Dabei geht es um Fragen wie: «Was ist noch vertretbar, und was bedeutet Lebensqualität konkret für das Kind?» Die Antworten darauf sind sehr individuell. Wir vom Palliative Care Team sind da, um diesen Entscheidungsprozess mitzutragen und die Eltern aufzufangen. Dabei hat die Lebensqualität oberste Priorität.

 

Frau Widler, wie können Sie als Psychologin betroffene Eltern unterstützen?

Die Eltern sind hin- und hergerissen zwischen dem Wissen, dass sich das Lebensende nähert, und der Hoffnung, die bis zum Schluss bestehen bleibt. Als Psychologin ist es wichtig, diesem Spannungsfeld Raum zu geben und das Gespräch anzubieten. Die Eltern fragen sich beständig: «Wie kann ich eine gute Mutter oder ein guter Vater für mein Kind sein?» Die Antwort darauf ist individuell sehr unterschiedlich, es gibt kein richtig oder falsch. Wir vom Palliative Care Team versuchen, gemeinsam mit der Familie einen Weg zu finden, der für sie stimmig ist. Wir wollen Eltern darin bestärken, dass sie rückblickend sagen können: «Wir haben alles getan, was für unser Kind wichtig war – und das war richtig so.» Das bedingt, dass wir möglichst offen und transparent mit den Eltern über das nahende Lebensende sprechen und auch den Wunsch des Kindes miteinbeziehen.

 

Frau Hauri, wie gehen die betroffenen Kinder oder Jugendlichen mit dem Thema Tod um? 

Oft spüren sie sehr genau, was mit ihnen passiert. Manche sprechen das Thema direkt an, andere öffnen sich auf andere Weise. Es ist wichtig, dass wir als Erwachsene diese Signale wahrnehmen und ihren Gefühlen und Bedürfnissen Raum geben. Zwischen der Erkenntnis über die eigene Sterblichkeit und dem Tod liegt oft noch viel Leben. Viele Kinder fragen sich: «Was will ich noch tun? Was ist mir jetzt wichtig?» In dieser Phase sind sie oft erstaunlich reif und klarsichtig. Gerade Kinder hadern weitaus weniger mit ihrem Schicksal als Erwachsene, vielleicht, weil sie mehr im Hier und Jetzt verankert sind. Wir vom Palliative Care Team hören genau zu, versuchen, Wünsche zu erfüllen und Eltern in dieser Extremsituation handlungsfähig zu halten. Dazu gehört auch, dass wir sie über den Sterbeprozess aufklären. Zu wissen, was medizinisch auf ihr Kind zukommt, befähigt die Eltern, die für sie «stimmigen» Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, wenn ihr Kind zuhause sterben möchte. Wir begleiten diesen Prozess eng und sind – auf Wunsch – rund um die Uhr vor Ort.

 

Frau Widler, wie kann es Eltern in dieser denkbar schlimmsten Situation gelingen, loszulassen? 
 
Es geht nicht darum, «loszulassen». Die Vorstellung, etwas zutiefst Geliebtes zu verlieren, löst Angst und Verzweiflung aus. Vielmehr versuchen wir den Eltern und Geschwistern zu vermitteln, dass das verstorbene Kind einen neuen Platz in der Familie erhält. Es soll über den Tod hinaus präsent bleiben dürfen. Dabei helfen Rituale und Orte der Erinnerung, die für jede Familie unterschiedlich sind. In diesem Prozess braucht es aber auch ein Helfernetzwerk, das präsent ist und Halt gibt – emotional und organisatorisch. Viele Eltern funktionieren in der Anfangsphase erst einmal weiter. Häufig sind es die Wochen und Monate danach, wenn es mehr Raum für die Trauer gibt, die schwierig werden. Dann fragen wir nach, ob sie oder die Geschwister etwas brauchen, besuchen sie vielleicht und bleiben in Kontakt. Aber auch hier gilt: Jede Familie, jeder Abschied ist verschieden. Trauer verläuft nicht graduell, sie «verschwindet» nicht eines Tages, aber sie verändert sich im Laufe der Zeit. 

 

Frau Widler, Geschwister sind in dieser Zeit auch emotional hoch belastet. Was benötigen sie, um mit dem Tod ihrer Schwester oder ihres Bruders umgehen zu können?

Geschwisterkinder brauchen vor allem Normalität. Das bedeutet, dass sie zur Schule gehen, ihre Hobbys fortführen und mit vertrauten Menschen zusammen sein können. Die Alltagsroutine vermittelt Sicherheit und gibt ihnen das Gefühl, dass sie nicht vergessen gehen – während und auch nach der Krankheit. Kinder trauern anders als Erwachsene. Sie sind punktueller in ihrer Trauer, können zwischendurch auch lachen und fröhlich sein. Gerade hier kann das Umfeld konkret unterstützen, indem es den betroffenen Geschwistern Zeit und Aufmerksamkeit schenkt, und gleichzeitig die Eltern entlastet. Es ist wichtig, die Geschwister selbst entscheiden zu lassen, wie sehr sie im Sterbeprozess involviert sein wollen. Manche möchten sich aktiv verabschieden – mit einem Brief, einer Zeichnung oder einem letzten Besuch. Trauernde Geschwisterkinder benötigen einen eigenen Handlungsspielraum und individuelle Begleitung. 

 

Frau Hauri, wie kann das Umfeld die trauernde Familie bestmöglich unterstützen?

Häufig sind es vermeintlich kleine Gesten, die wertvoll sind, wie zum Beispiel Essen kochen, das Geschwisterkind betreuen oder einen Besuch abstatten. Es ist wichtig zu zeigen, dass man präsent ist, nicht nur in den ersten Wochen und Monaten nach der Beerdigung, sondern auch später. Die Trauer geht nicht einfach weg, nur weil die Zeit vergeht. Jahrestage, Geburtstage oder Weihnachten sind häufig besonders schwierig für die Familien, auch Jahre nach dem Tod ihres Kindes. Viele Eltern befürchten, dass ihr Kind in Vergessenheit gerät, und bekommen das Gefühl, dass es niemanden mehr interessiert. Deshalb ist es so wichtig, punktuell immer wieder nachzufragen und Gesprächsbereitschaft zu signalisieren – auch wenn das nicht immer leichtfällt.

 

Frau Widler, ist der Tod, insbesondere der eines Kindes, nach wie vor ein Tabuthema in unserer Gesellschaft?

Definitiv. Wenn der Tod kein Tabuthema mehr wäre, könnten wir als Gesellschaft besser damit umgehen. Aus meiner Erfahrung möchten trauernde Eltern von ihrem Kind erzählen, wenn der Moment für sie passt. Indem man darüber spricht, öffnet sich ein Raum, in der die Trauer und das Kind ihren eigenen Platz haben. Vielfach wissen Freunde oder das Umfeld nicht, wie sie Eltern auf den Verlust ihres Kindes ansprechen sollen. Eine Möglichkeit kann sein, zu sagen: «Mir fehlen die Worte». Das ist weitaus besser, als zu schweigen oder den Tod gar zu verharmlosen. Solange wir in unserer Gesellschaft nicht lernen, offener mit diesem Thema umzugehen, bleiben diese Berührungsängste bestehen. Es braucht mehr Mut und den Willen, sich damit auseinanderzusetzen.

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