Interview Tamara Diesch 21/1 - Fertilität und Kinderwunsch - Kampagnen - Aktuell - Kinderkrebsschweiz
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«Wir Kinderonkologen setzen die Weichen für die spätere Lebensqualität unserer Patienten»

Dr. med. Tamara Diesch, Leitende Ärztin Pädiatrische Onkologie und Hämatologie am Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), spezialisiert auf Fertilitätsbehandlungen bei krebskranken Kindern und Jugendlichen.

Frau Diesch, warum gehört die Fertilitätsberatung im UKBB zur Routine bei Krebsbehandlungen von Kindern und Jugendlichen?
Wir haben über die Jahre gesehen, wie gross der Leidensdruck bei den Betroffenen sein kann, wenn aufgrund der Krebstherapie Spätfolgen auftreten. Diese reichen in unserem Bereich von einer verzögerten Pubertätsentwicklung, die sich auf die psychosoziale Gesundheit auswirken kann, bis hin zu Fertilitätsproblemen mit anschliessender  Kinderlosigkeit. Weibliche Patienten haben zudem ein erhöhtes Risiko, vorzeitig in die Wechseljahre zu kommen. Dies kann dazu führen, dass zum Beispiel eine 18-Jährige Survivorin an menopausalen Beschwerden leidet und feststellen muss, dass sie keine eigenen Kinder haben kann. Um solche leidvollen Erfahrungen möglichst zu verhindern, ist es wichtig, frühzeitig fertilitätserhaltende Massnahmen anzusprechen und zu ergreifen. Aus diesem Grund führen wir vor jeder Krebsbehandlung eine Fertilitätsberatung für Eltern und – wenn möglich – Kinder durch. Wir klären sie über die Risiken auf und besprechen Massnahmen, wie die Fruchtbarkeit für die Zukunft erhalten werden kann.


Warum werden Fertilitätsberatungen vor der Therapie noch nicht standardmässig angeboten?
Das Bewusstsein für die Wichtigkeit dieses Themas wächst in der Kinderonkologie zunehmend. Zudem existieren immer mehr Möglichkeiten präventiv einzugreifen, weil die Reproduktionsmedizin laufend Fortschritte macht. Manche Verfahren befinden sich noch im experimentellen Stadium, andere wiederum sind bereits offiziell anerkannt. In der Schweiz sind fertilitätserhaltende Massnahmen bei krebskranken Kindern und Jugendlichen im Vergleich zu anderen Ländern gesetzlich nicht vorgeschrieben und bis 2019 mussten die Betroffenen selbst für die Kosten aufkommen. Bei der Nachsorge sieht es besser aus. Zum einen gehört die Fertilitätsberatung hier zum festen Standard, weil wir in diesem Bereich mit internationalen Richtlinien arbeiten, zum anderen ist das Thema in dieser Altersgruppe viel aktueller. Bei Kleinkindern und Säuglingen hingegen, bei denen der Zeithorizont bis zur Geschlechtsreife viel grösser ist, scheint das Thema zunächst weniger dringlich. Hier müssen wir viel weiter denken und uns fragen, was passiert, wenn unsere Patienten ins Erwachsenenalter kommen. Dann wird auch klarer, warum es essentiell ist, den Fokus bereits in so jungen Jahren auf die Fertilität zu legen und gemeinsam mit Reproduktionsspezialisten, die über das notwenige Fachwissen verfügen, Beratungsangebote als festen Bestandteil vor einer Krebstherapie zu etablieren.


Welche konkreten Optionen gibt es, um die Fertilität bei jungen Krebspatientinnen und – patienten vor einer Therapie zu erhalten?
Bei einem stark erhöhtem Risiko für eine spätere Unfruchtbarkeit können verschiedene  Massnahmen angeboten werden, die je nach Alter und Geschlecht variieren. So kann bei Mädchen vor der Pubertät der Eierstock teilweise oder ganz entnommen, eingefroren und zu einem späteren Zeitpunkt wieder eingesetzt werden. Durch die Reimplantation lässt sich die Hormonproduktion dann wieder ankurbeln. Dieses Verfahren wird bei postpubertären Patientinnen bereits seit einigen Jahren erfolgreich angewendet, bei präpubertären Mädchen ist sie noch im experimentellen Stadium, aber es gibt Grund zur Annahme, dass auch sie mit dieser Methode später Kinder auf natürliche Wege bekommen können. Das Gleiche gilt für Jungen, die noch nicht in der Pubertät sind. Bei ihnen wird Hodengewebe entnommen, eingefroren und später wieder eingesetzt. Diese Fortschritte in der Reproduktionsmedizin sind für uns besonders wichtig, weil bis zu zwei Drittel unserer Patientinnen und Patienten die Pubertät noch gar nicht erreicht haben. Die etablierte Methode nach der Pubertät besteht im Einfrieren von Spermien oder Entnahme von Hodengewebe, von dem Spermien extrahiert werden. Diese können dann später im Rahmen einer künstlichen Befruchtung verwendet werden. Bei Mädchen ist es etwas komplexer: hier muss die Produktion der Eizellen vor der Entnahme zuerst hormonell stimuliert werden. Das dauert circa zwei Wochen, eine Zeit, die bei einer dringend anstehenden Krebsbehandlung nicht immer vorhanden ist. Dann kann alternativ Eierstockgewebe eingefroren werden.


Kann die Krebstherapie Schäden am Erbmaterial hinterlassen und haben Kinder von Survivors ein erhöhtes Risiko auch an Krebs zu erkranken?
Aufgrund zahlreicher Langzeitstudien wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Weder die Krankheit noch die Therapie wirken sich schädigend auf das Erbmaterial aus. Ehemalige Kinderkrebspatientinnen – und patienten können wie auch andere Eltern gesunde Kinder auf die Welt bringen. Das Risiko ist also nicht höher, es sei denn es gibt bereits eine erblich bedingte Krebsveranlagung in der Familie.


Sie haben sich gemeinsam mit anderen Partnern aus dem Gesundheitsbereich erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Kosten für bestimmte fertilitätserhaltende Massnahmen von den Krankenkassen übernommen werden müssen. Welche sind das genau?
Seit dem 1. Juli 2019 gehören die Kosten für die Entnahme und Lagerung der Keimzellen ab der Pubertät und für eine Dauer von fünf Jahren zur Pflichtleistung. Diese besteht maximal bis zum 40sten Lebensjahr und muss alle fünf Jahre verlängert werden. Nicht gedeckt sind weiterhin die Kosten für Massnahmen bei präpubertären Kindern, weil sie noch experimentell sind. Hier springen bei uns grösstenteils Stiftungen ein. Da auch später anfallende Kosten, wie z.B. für eine künstliche Befruchtung, noch nicht von den Krankenkassen übernommen werden, ist ein Vorstoss in diese Richtung geplant. Es kann nicht sein, dass der Kinderwunsch vom soziökonomischen Hintergrund der Krebsbetroffenen abhängt. Hier ist ein politisches Umdenken vonnöten, um zu verhindern, dass junge Menschen, die den Krebs überlebt haben, nochmals Schaden nehmen.

 

Welche Dinge müssten sich Ihrer Meinung nach verbessern?
Neben der kompletten Kostenübernahme durch die Krankenkassen müsste generell viel offener über Fertilität und auch Sexualität gesprochen werden, gerade auch in der Nachsorge. Oft haben unsere Patienten weniger Mühe mit dem Thema als wir Ärzte. Ebenso wichtig wäre deshalb nicht nur die Aneignung von mehr Fachwissen in diesem Bereich, sondern auch die Verbesserung der Kommunikation und der Zusammenarbeit mit anderen Fachbereichen wie der Reproduktionsmedizin. Wir Kinderonkologen setzen die Weichen für die spätere Lebensqualität unserer Patienten. Wir müssen uns also vermehrt fragen, was passiert mit ihnen, wenn sie erwachsen sind? Und was können wir tun, damit sie nicht später Leid erfahren, das wir mit den uns heute zu Verfügung stehenden Methoden hätten verhindern können? Mein Wunsch wäre deshalb, dass wir uns dieser Verantwortung bewusster werden und dementsprechend handeln.

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