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«Oscars Spätfolgen haben die Schule nicht interessiert»

Interview mit Camilla Adby, Mutter eines Survivors

Interview mit Camilla Adby

Mit sechs Monaten erkrankte Oscar an Leberkrebs. Den Ärzten gelingt es, das Leben des Säuglings zu retten, indem sie den bösartigen Tumor chirurgisch entfernen und Oscar einer mehrmonatigen Chemotherapie unterziehen. Der heute achtjährige Survivor gilt als geheilt, hat jedoch aufgrund der intensiven Behandlungen Spätfolgen. Die Eltern kämpfen für mehr Verständnis und Bereitschaft, Kinder wie Oscar schulisch besser zu integrieren.
 

Frau Adby, seit Oscars Diagnose sind über sieben Jahre vergangen. Er gilt als geheilt, aber der Krebs hat Spuren hinterlassen. Wie geht es Ihrem Sohn heute?

Zunächst einmal sind wir überglücklich, dass es Oscar gut geht und wir inzwischen nur noch einmal im Jahr zur Nachkontrolle ins Spital müssen. Er hat sich zu einem fröhlichen und sehr aufgeweckten Kind entwickelt. Er bäckt und kocht wie ein Weltmeister, geht offen und interessiert auf andere Menschen zu und ist ein grosser Stephen Hawking-Fan. Leider hat die Chemotherapie sein Gehör geschädigt, was bedeutet, dass er ein Hörgerät tragen muss. Zudem haben die Ärzte bereits vor seiner Einschulung festgestellt, dass er unter einem sogenannten Chemobrain* leidet. Die Schule ist deshalb eine Herausforderung für ihn und er ist häufiger müde und erschöpft als gleichaltrige Kinder. Oscar und seine Zwillingsschwester Elin sind Frühchen. Deshalb hatten sie regelmässig medizinische Kontrolluntersuchungen, um zu schauen, ob sie sich altersgerecht entwickeln. Im Gegensatz zu Elin sind jedoch bei Oscar aufgrund der aggressiven Chemotherapie Entwicklungsverzögerungen aufgetreten. Deshalb wurde er bereits früh heilpädagogisch begleitet und konnte dann aber zeitgleich mit seiner Schwester eingeschult werden.

 

Wie zeigt sich die Diagnose «Chemobrain» bei Ihrem Sohn?

Oscar hat Mühe, sich zu konzentrieren und ist häufig sehr zappelig. Wenn etwas neu ist, dann muss er zunächst alles erkunden, anfassen und auseinandernehmen, um zu schauen, wie etwas funktioniert. Deshalb fällt es ihm auch sehr schwer, eine ganze Schulstunde lang still dazusitzen. Für Aussenstehende mag das dann vielleicht wie ADHS aussehen, aber das ist bei ihm definitiv nicht der Fall. Im Kinderspital haben sie uns erklärt, dass neurokognitive Beeinträchtigungen eine Folge der Chemotherapie sind, die er als Säugling bekommen hat. Deshalb spricht man in diesem Zusammenhang auch von «Chemobrain».

 

Viele Survivors haben aufgrund ihrer Spätfolgen Mühe im Unterricht. Wie verlief die Einschulung für Oscar?

Die ersten Probleme für Oscar begannen leider bereits im Kindergarten. Obwohl er sowohl aus Sicht des Kinderarztes, der Neuropsychologin und der Heilpädagogin bereit für den Kindergarten war, hiess es dort nach anderthalb Wochen, er könne nicht bleiben, er sei noch nicht so weit. Dass er aufgrund seiner Krebserkrankung Spätfolgen hat, die sich auf seine neurokognitiven Leistungen und sein Verhalten auswirken, hat niemanden interessiert. Was ich damals noch nicht wusste, war, dass Oscar eigentlich das Recht gehabt hätte, weiterhin dort eingeschult zu bleiben und Unterstützung zu erhalten. Das war uns jedoch nicht klar und wir haben versucht, im Nachbarkanton eine andere Lösung für ihn zu finden. Diese Zeit war sehr schwierig für ihn, weil er sich wie bestraft gefühlt hat, auch weil seine Schwester ja im alten Kindergarten bleiben durfte. Immer wenn ich Elin abgeholt habe, hat er sich hinter meinem Rücken versteckt. Schliesslich haben wir gemeinsam mit der kantonalen Erziehungsberatung einen anderen Kindergarten in unserer Gemeinde gefunden. Dort hatte man viel Verständnis für Oscars spezielle Situation, er wurde individuell gefördert und man hat uns zum ersten Mal richtig zugehört. Oscar hat sich dort sehr wohl gefühlt und konnte sich prächtig weiterentwickeln.

 

Wie ging es dann in der Primarschule für ihn weiter?

Am Anfang lief alles gut. Aber nach einer Zeit haben wir gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Oscar hatte oft Kopf- und Bauchweh. Er selbst hat nicht viel darüber geredet, aber seine Schwester und andere Mitschüler haben erzählt, dass sich manche Kinder Oscar gegenüber sehr aggressiv verhalten. Kurz vor Weihnachten war plötzlich sein grünes Hörgerät, auf das er sehr stolz ist, weg. Jemand hatte es ihm aus dem Ohr gerissen und weggeworfen. Die Situation wurde immer schwieriger und Oscar hat sehr darunter gelitten. Wir haben versucht, mit der Schule über das Thema Mobbing zu reden, allerdings ohne Erfolg. Dann hiess es auf einmal, er könne keine Buchstaben lesen und nicht bis 20 zählen – alles Dinge, die er zeitgleich mit Elin bereits im Kindergarten gelernt hatte und definitiv konnte. Das zeigen auch seine Lernberichte aus der Zeit. Alle unserer Versuche, das Gespräch mit der Schulleitung zu suchen, um zu erklären, warum Oscar als ehemaliger Kinderkrebspatient mit Schwierigkeiten kämpft und wie man ihn unterstützen könnte, sind ins Leere verlaufen. Vielmehr wurde er sukzessive vom Unterricht ausgeschlossen und durfte an vielen Aktivitäten nicht mehr teilnehmen. Irgendwann war klar, dass es so nicht weitergehen konnte, die emotionale Belastung für Oscar wurde zu gross. Wir hatten Glück und die kantonale Erziehungsberatung hat dafür gesorgt, dass Oscar zu Beginn der zweiten Klasse in eine neue Schule wechseln durfte. Dort sind sie offen für seine spezielle Situation und hören zu. Er fühlt sich jetzt sehr wohl, wird individuell gefördert und es geht ihm endlich wieder gut.

 

Was war in dieser Zeit am schwierigsten für Sie und was wünschen Sie sich für andere Kinder und Eltern in einer ähnlichen Situation?

Wir hatten das Gefühl, dass Oscar von der Schule hier komplett im Stich gelassen wurde. Mit seinem «Chemobrain» hat er einfach in keine ihrer Schubladen gepasst. Aber unser Sohn ist nicht behindert, sondern er hat Spätfolgen von seiner Krebserkrankung davongetragen. Dazu gibt es eine Diagnose und ausreichend medizinische Berichte, die seinen Entwicklungsstand belegen. Wir haben wiederholt versucht, mit der Schulleitung darüber zu sprechen und auch seine Neuropsychologin stand für ein Gespräch bereit. Aber Oscars Spätfolgen haben die Schule einfach nicht interessiert. Stattdessen wurde er ab dem zweiten Halbjahr immer weiter ausgegrenzt. Das war eine sehr schlimme Zeit, die ihn tief geprägt hat. Immer fragte er mich: «Was ist falsch mit mir? Warum bin ich so dumm?». Damit er das aufarbeiten kann, hat uns seine Ärztin geraten, psychologische Hilfe für ihn zu suchen. Das alles macht mich sehr traurig und wütend. Jede Schule ist anders. Das haben auch wir erlebt. Aber es kann nicht sein, dass es rein vom Zufall abhängt, ob die schulische Integration bei einem Kind, das aufgrund seiner Krankheit einen speziellen Förderbedarf hat, funktioniert. Damit es anderen Familien nicht ähnlich wie uns ergeht, wünsche ich mir in den Schulen generell mehr Aufklärung über das Thema Kinderkrebs und die Bereitschaft, Kinder wie Oscar, die vielleicht etwas anders sind, so anzunehmen wie sie sind.  

 

 

 

* Unter dem Begriff Chemobrain wird ein Symptomkomplex zusammengefasst, der neurokognitive Beeinträchtigungen nach einer Chemotherapie beschreibt. Betroffen sind vor allem die Bereiche im Gehirn, die für das Erinnern sowie für das Planen und Einordnen von Informationen zuständig sind. So finden sich Einschränkungen bei Konzentration, Merkfähigkeit, Kurz- und Langzeitgedächtnis, Lernfähigkeit, Reaktionszeit, Aufmerksamkeit, Multitasking, Wortfindungsvermögen, Koordinationsvermögen sowie beim verbalen und visuellen Gedächtnis.

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