Kampagne: Wenn die Kasse nicht zahlt - Kinderkrebsschweiz
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Kampagne 2022/2

Kinderkrebs: 
Wenn die Kasse nicht zahlt

In der Schweiz erkranken jährlich circa 350 Kinder und Jugendliche an Krebs, darunter viele Säuglinge und Kleinkinder. Auch wenn sich die Überlebenschancen dank medizinischer Fortschritte verbessert haben, stirbt immer noch jedes fünfte erkrankte Kind und viele der Überlebenden leiden an Spätfolgen. Umso wichtiger ist deshalb, dass alle Kinder und Jugendlichen einen gleichberechtigten Zugang zu einer optimalen medizinischen Behandlung erhalten. 

Besonders schwierig wird es für betroffene Familien, wenn dringend notwendige Medikamente und Zusatztherapien von der eigenen Krankenkasse nicht oder erst nach sehr viel bürokratischem Aufwand bezahlt werden. Dies verursacht bei den Eltern eine enorme Zusatzbelastung und grosse Unsicherheit, in einer Zeit, in der das Überleben ihres Kindes im Mittelpunkt steht. Aufwendige Abklärungsverfahren und unnötige Bürokratie können zu Behandlungsverzögerungen führen und dadurch die Heilungschancen der Kinder beinträchtigen. Denn Krebs im Kindesalter entwickelt sich viel schneller als bei Erwachsenen und erfordert rasches Handeln. Die vom Bund aktuell geplante Reform der Krankenversicherungsverordnung wird die Problematik verschärfen und den Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten für krebskranke Kinder weiter verschlechtern.  

Shanna G. mit ihren beiden Töchtern (Finja in der Mitte)

Foto: Andrea Lobsiger

«Dass die Krankenkasse nicht zahlen wollte, war ein Riesenschock für uns»

Shanna G., betroffene Mutter

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Krebsmedikamente für Kinder im Off-Label-Use

Die im Vergleich zu erwachsenen Krebspatienten geringe Anzahl krebskranker Kinder und Jugendlicher macht es für die Pharmaindustrie wenig attraktiv, spezifische Medikamente für diese Patientengruppe zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Deshalb sind die meisten Medikamente, mit denen junge Patienten behandelt werden, nur für Erwachsene zugelassen. Diese Anwendungen im sogenannten Off-Label-Use fallen jedoch nicht unter die amtlichen Indikationen. Deshalb werden sie nur im Rahmen einer Ausnahmeregelung bei der Krankenkasse oder der IV und unter bestimmten Bedingungen zurückerstattet. Davon betroffen sind aktuell circa 90 Prozent aller Arzneimittel, die bei krebskranken Kindern und Jugendlichen zum Einsatz kommen. Ob eine Therapie für ein krebskrankes Kind bezahlt wird oder eben nicht, hängt somit ausschliesslich vom Entscheid des jeweiligen Versicherers ab.

«Ich musste darum kämpfen, dass die Krankenkasse die Chemotherapie meines Sohnes bezahlt»

 Alessia B., betroffene Mutter 

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Hohe Heilungsraten dank standardisierter Behandlungsprotokolle

Die Mehrheit der betroffenen Kinder und Jugendlichen wird in der Schweiz nach strengen internationalen Behandlungsprotokollen behandelt, die im Vorfeld von Swissmedic zugelassen und von den Schweizer Ethikkommissionen überprüft und bewilligt wurden. Diese Protokolle ermöglichen es, jedem krebskranken Kind Zugang zu international besten Therapieoptionen zu gewähren und somit 80 Prozent der Patienten zu heilen. Im Gegensatz zur Erwachsenenonkologie empfehlen Kinderonkologen deshalb keine individuell zusammengestellte Behandlung, sondern sie sind verpflichtet, sich strikt an die Behandlungsvorgaben und Medikamente zu halten, die in den Behandlungsprotokollen vorgegeben sind. Alle Kinderonkologen wenden schweizweit das gleiche Behandlungsprotokoll an. Dank dieser flächendeckenden Standardisierung der Therapie kann ein hoher Grad an qualitätsgesicherter, überprüfbarer Medizin erreicht werden. Ungeachtet dieser Tatsache müssen standardisierte Behandlungselemente bei jedem Patienten gegenüber dem Versicherer immer wieder einzeln begründet und teils in einem aufwendigen Verfahren durchgesetzt werden.

Automatische Kostenübernahme von Standardtherapien

Diese langwierigen Abklärungsprozesse belasten die kinderonkologischen Zentren unnötig und kosten wertvolle Zeit. Während ältere und günstigere Medikamente in der Regel rückerstattet werden, sind die Hürden bei der Kostenübernahme von neuen und teureren Medikamenten häufig höher: je nach Versicherer werden sie entweder nur nach grossem bürokratischen Aufwand bewilligt oder aber gänzlich verweigert. Dank der rasanten medizinischen Fortschritte bei der Behandlung von Erwachsenenkrebs werden auch Kinder in den kommenden Jahren zunehmend Zugang zu innovativen Therapiemöglichkeiten erhalten. Aufgrund der höheren Kosten, wird dies mit einem steigenden Kostendruck einhergehen. Es ist deshalb zu befürchten, dass sich das Problem gerade im Bereich der Kinderonkologie in Zukunft weiter verstärken wird. Alle Medikamente, die im Rahmen dieser geprüften und bewilligten Standardtherapien vorgesehen sind, sollten deshalb automatisch von der Krankenkasse oder der IV übernommen werden.

«Der Einsatz eines innovativen Medikaments kann über Leben und Tod eines Kindes entscheiden»

Dr. med. Pierluigi Brazzola, Kinderonkologe 

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Versicherer ziehen sich aus der Verantwortung

Kinder und Jugendliche erkranken an mehr als 60 verschiedenen Krebsarten, die sich innerhalb einer Tumorgruppe wiederum voneinander unterscheiden. Manche dieser Tumoren treten in der Schweiz extrem selten auf. Schlägt eine Behandlung nicht an oder kommt der Krebs im Fall eines Rezidivs zurück, versuchen die Ärzte alles, um das Leben des Kindes zu retten. Um den Tumor gezielter bekämpfen zu können, werden dann oft neuere und teurere Medikamente eingesetzt. Aufgrund der geringen Patientenzahlen existiert in diesen Fällen meistens kein Behandlungsprotokoll. Das macht es für die behandelnden Kinderonkologen besonders schwierig, den eindeutigen Nachweis über den therapeutischen Nutzen beim Vertrauensarzt der Krankenkasse oder der IV zu erbringen. In circa 50 Prozent der Fälle kommt es deshalb zu einer ersten Ablehnung der Kostenübernahme. Dann beginnt häufig ein langwieriger Verhandlungsprozess zwischen Kinderonkologen, Versicherern und Medikamentenherstellern. Trotzdem kommt es in circa 20 Prozent der Fälle zu einer endgültigen Absage. In diesem Fall bleibt den Eltern nur die Hoffnung, dass sich eine Stiftung bereit erklärt, die Therapiekosten zu übernehmen, oder sie müssen selbst dafür aufkommen. Dass sich die Versicherer ausgerechnet bei krebskranken Kindern, den schwächsten und schutzbedürftigsten Patienten, aus der Verantwortung ziehen, wirft grosse ethische Fragen auf.

Ein Expertengremium für komplexe Fälle und Rezidive

Die Beurteilung von komplexen, seltenen Krankheiten wie Kinderkrebs setzt ein hochspezialisiertes Fachwissen voraus. Die Vertrauensärzte der Versicherer, die Anträge auf Kostengutsprachen aus verschiedenen medizinischen Bereichen beurteilen müssen, verfügen in der Regel nicht über die dafür notwendige Expertise. Um sicherzustellen, dass der Nutzen einer nicht standardisierten Therapie vom Vertrauensarzt adäquat beurteilen werden kann, fordert Kinderkrebs Schweiz zur Unterstützung ein fachspezifisches und bindendes Expertengremium aus Kinderonkologen. Nur so lässt sich in Zukunft gewährleisten, dass krebskranke Kinder und Jugendliche in komplexen Fällen und bei Rezidiven einen gleichberechtigen Zugang zu den bestmöglichen Therapien erhalten.  

SRF Tagesschau vom 16.10.2022

Beitrag zum Thema in der SRF-Tagesschau vom 24.10.2022. Zum Abspielen aufs Bild klicken.

Bessere Kostenübernahme von Begleittherapien

Bei Kindern, deren Immunsystem durch eine Krebstherapie geschwächt ist, können Infektionen rasch lebensbedrohlich werden. Bakterien, Viren und Pilze dringen leichter in den Körper ein und vermehren sich dort ungehindert. Deshalb sind neben der Krebsbehandlung auch unterstützende Behandlungen, sogenannte supportive Therapien, äusserst wichtig. Sie dienen nicht nur der Vorbeugung von Infektionen, sondern auch der Verbesserung der Lebensqualität, indem sie zum Beispiel helfen, schmerzhafte Eingriffe erträglicher zu machen. Viele Medikamente, die in diesem Rahmen verwendet werden, werden von der Krankenkasse oder der IV nicht rückerstattet. Die Folge: Betroffene Eltern sind gezwungen, teilweise selbst dafür aufzukommen. Deshalb ist auch hier eine breitere Kostenübernahme dieser für die Patienten wichtigen unterstützenden Massnahmen erforderlich. 

Die Reform des Bundes bringt krebskranke Kinder und Jugendliche in eine Notlage

Die vom Bundesrat geplante Revision der Krankenversicherungsverordnung (KVV) würde die bestehenden Herausforderungen in Bezug auf die Kostenübernahme von Medikamenten massiv verschärfen. Neu werden nämlich klinisch kontrollierte Studien vorausgesetzt, die eine Verbesserung von mindestens 35 Prozent im Vergleich zur Standardarzneimitteltherapie oder - beim Fehlen einer solchen - zu Placebo aufweisen müssen. Viele Medikamente auf der sogenannten Spezialitätenliste erfüllen diese Vorgabe nicht. Dass Arzneimittel im Off-Label-Use weitaus strengeren Kriterien als kassenpflichtige Medikamente unterliegen, widerspricht fundamental dem Zweck der Verordnungsbestimmungen der Einzelfallvergütung*. Die Revision würde somit vor allem Patienten mit seltenen Erkrankungen, wie zum Beispiel krebskranke Kinder und Jugendliche, besonders hart treffen. Bei seltenen Krankheiten wie Kinderkrebs, gibt es bei Rezidiven oder refraktären Krankheiten, die auf die Standardtherapien nicht ansprechen, aufgrund der geringen Fallzahlen kaum Behandlungsprotokolle. Der Nachweis über einen Mehrnutzen von 35 Prozent könnte deshalb in vielen Fällen nicht erbracht werden. Die Konsequenzen wären fatal: Behandlungen würden in Zukunft noch schwerer vergütet und die Heilungschancen erheblich vermindert werden. Weil diese neue Bestimmung krebskranke Kinder und Jugendliche in eine dramatische Versorgungslage bringen würde, muss zwingend darauf verzichtet werden.

Symbolbild

Kinderkrebs Schweiz macht gegen die Ungleichbehandlungen mobil

Das Ziel von Kinderkrebs Schweiz ist, dass in Zukunft alle für die Therapie notwendigen Medikamente von den Versicherern übernommen werden. Dazu gehört die automatische Rückerstattung aller Arzneimittel, die im Rahmen von Standardtherapien vorgesehen sind. Zudem fordert der Dachverband zur Unterstützung der Vertrauensärzte und zur Beurteilung des therapeutischen Nutzens einer nicht standardisierten Behandlung den Einbezug eines bindenden und unabhängigen Expertengremiums aus dem Bereich der Kinderonkologie. Dadurch lassen sich in strittigen Fällen Ungleichbehandlungen von Patienten je nach Krankenkasse oder kantonaler IV-Stelle vermeiden. Hinsichtlich von Zusatztherapien, die bei immungeschwächten Kindern lebensbedrohliche Infektionen verhindern und deren Lebensqualität spürbar verbessern können, braucht es darüber hinaus eine breitere Kostenübernahme seitens der Versicherer.

Der aktuelle Revisionsvorschlag des Bundes wird das Problem des gleichberechtigten Zugangs zu lebenswichtigen Medikamenten in der Kinderonkologie nicht lösen, sondern teils spürbar verschlechtern. Kinderkrebs Schweiz lehnt deshalb den Verordnungsentwurf ab und bietet stattdessen eine aktive Unterstützung bei der Ausarbeitung tragfähiger Lösungen an. Entsprechende Verbesserungsmöglichkeiten wurden dem Bundesrat im Rahmen einer Stellungnahme bereits vorgeschlagen. Diese wurde von allen neun auf die Behandlung krebskranker Kinder und Jugendlicher spezialisierten Mitgliedskliniken der SPOG** unterstützt. Neben zielführenden Gesprächen mit wichtigen politischen Akteuren konnten darüber hinaus Allianzen mit anderen Partnern aus dem Gesundheitsbereich gebildet werden, um gemeinsam auf die negativen Folgen der aktuellen Revision aufmerksam zu machen. Parallel dazu hat der Dachverband eine erfolgreiche Medienoffensive gestartet, um Öffentlichkeit und Entscheider für die drohende Versorgungslücke zu sensibilisieren. Mehr Informationen zu unserem politischem Engagement hier.  

 

 

* Die Artikel 71a–71d KVV regeln die Vergütung von Arzneimitteln für Off-Label- und Off-SL-Therapien im Einzelfall. Es handelt sich dabei um eine Ausnahmeregelung, welche in erster Linie den Zugang zu nicht auf der SL (Spezialitätenliste) aufgeführten Arzneimitteln für die Behandlung von tödlich verlaufenden Krankheiten und schweren sowie chronischen gesundheitlichen Beeinträchtigungen sicherstellen soll.

** Schweizerische Pädiatrische Onkologie Gruppe (SPOG)

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